"Der Mensch, der sich nach seinen Gedanken richtet, der intellektualistisch
sein Leben führt, kann nie tragisch werden. Und der
Mensch, der ganz tugendhaft lebt, kann auch eigentlich nie tragisch
werden. Tragisch werden kann der Mensch, der in irgendeiner
Weise zum Dämonischen, das heißt zum Geistigen hinneigt. Es
fängt eine Persönlichkeit, ein Mensch erst an tragisch zu werden,
wenn das Dämonische im Guten oder im Schlimmen in irgendeiner
Weise in ihm vorhanden ist. Nun stehen wir heute im Zeitalter des
frei werdenden Menschen, wo der Mensch als dämonischer Mensch
eigentlich ein Anachronismus ist. Das ist der ganze Sinn des fünften
nachatlantischen Zeitraumes, daß der Mensch aus dem Dämonischen
herauswächst zum freien Menschen. Aber indem der
Mensch ein freier Mensch wird, hört sozusagen die Möglichkeit
des Tragischen auf.
Da, wo der Mensch die Erscheinung eines Dämonisch-Geistigen
ist, wo das Dämonisch-Geistige durch ihn strahlt, sich offenbart,
wo der Mensch gewissermaßen das Medium des Dämonischen
wird, ist das Tragische möglich gewesen. In diesem Sinne
wird das Tragische mehr oder weniger aufhören müssen, denn
die freigewordene Menschheit muß sich von dem Dämonischen
losmachen. Heute tut sie das noch nicht. Sie fällt erst recht ins
Dämonische hinein.
Das ist aber einmal die große Zeitaufgabe, die Zeitmission, daß
die Menschen aus dem Dämonischen herauswachsen und in das
Freie hineinwachsen. Aber wenn wir die inneren Dämonen als
diejenigen Gestalten, die uns zu tragischen Persönlichkeiten
machen, loswerden, werden wir das Äußerlich-Dämonische um so
weniger los. Denn in dem Augenblicke, wo der Mensch mit der
Außenwelt in Beziehung tritt, fängt auch für den neueren Menschen
etwas Dämonenartiges an. Unsere Gedanken müssen immer
freier und freier werden. Und wenn, wie ich es in meiner «Philosophie
der Freiheit» dargestellt habe, die Gedanken die Impulse
für den Willen werden, wird auch der Wille frei. Das sind auch
die polarischen Gegensätze, die frei werden können, die freien
Gedanken, der freie Wille. Aber dazwischen liegt das übrige
Menschliche, das mit dem Karma zusammenhängt. Und ebenso
wie das Dämonische einmal zum Tragischen geführt hat, so wird
gerade beim modernen Menschen das Erleben des Karma zur
tiefen innerlichsten Tragik führen können. Die Tragödie wird aber
erst blühen können, wenn die Menschen das Karma erleben werden.
Solange wir bei unseren Gedanken bleiben, so lange können
wir frei sein. Wenn wir die Gedanken in Worte kleiden, gehören
die Worte nicht mehr uns. Was kann aus einem Worte, das ich
ausgesprochen habe, alles werden! Es wird von dem andern aufgenommen.
Er umgibt es mit anderen Emotionen, mit anderen
Empfindungen. Das Wort lebt weiter. Indem das Wort durch die
Menschen der Gegenwart fliegt, wird es eine Gewalt, die aber
vom Menschen ausgegangen ist. Das ist sein Karma, durch das er
mit der Welt zusammenhängt, das sich wiederum zurück auf ihn
entladen kann. Da kann schon durch das Wort, das sein eigenes
Dasein führt, weil es nicht uns angehört, weil es dem Sprachgenius
angehört, das Tragische werden. Wir sehen gerade heute die
Menschheit, ich möchte sagen überall in der Anlage zu tragischen
Situationen durch die Überschätzung der Sprache, durch die
Überschätzung des Wortes. Die Völker gliedern sich nach den
Sprachen, wollen sich gliedern nach den Sprachen. Das gibt die
Grundlage zu einer Riesen-Tragik, die noch in diesem Jahrhundert
über die Erde hereinbrechen wird. Das ist die Tragik des Karma.
Wenn wir sprechen können von der abgelebten Tragik als einer
Tragik der Dämonologie, müssen wir von der Tragik der Zukunft
sprechen als von der Tragik des Karma."
Rudolf Steiner, 1923
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