Wednesday, November 13, 2013

Das geschichtliche Werden

"...dieses geschichtliche Werden
ist noch etwas anderes, in dem steckt ebenso etwas
Unbekanntes wie in dem, was der Mensch als Gefühl, als
Willensimpuls erlebt. Wie der Mensch seine Gefühlswelt
eigentlich verträumt, so verträumt er dasjenige, was wirklicher
Strom des geschichtlichen Werdens ist. Diese Erkenntnis
ist das erschütternde Ergebnis jener Beobachtung,
die sich vom Menschen weg zum geschichtlichen Werden
hinwendet, und sie zeigt, daß wir diese Vorstellungen, die
das äußere bewußte Leben regieren, nicht gebrauchen können,
um geschichtliches Leben irgendwie zu fassen. Denn
das, was man im alltäglichen Bewußtsein als einzelner
Mensch erlebt, wird wachend erlebt. Aber in diesem ganzen
wachen Tagesleben ist das gar nicht drinnen, was Geschichte
ist. Geschichte wird von den Menschen nicht wach erlebt,
Geschichte wird geträumt. Der große Traum des Werdeganges
der Menschheit, das ist Geschichte, und niemals tritt
Geschichte in das gewöhnliche Bewußtsein ein. Man kann
das gewöhnliche Bewußtsein in sehr scharfsinniger Weise
besitzen, man kann der bedeutendste Naturforscher sein
gerade mit demjenigen Verstände, der geeignet ist, die
Dinge zusammenzustellen nach Ursache und Wirkung, man
kann diejenige Geistesstimmung haben, welche einen besonders
befähigt, die äußere Natur richtig zu schauen und
zu charakterisieren in ihrer Gesetzmäßigkeit. Lernt man
erkennen, was Strom des geschichtlichen Werdens wirklich
ist, so sagt man sich: Mit all dem Geistesvermögen, das
geeignet ist, die äußere Natur zu begreifen, ja, das gerade
fruchtbar ist für das Begreifen der äußeren Natur, mit dem
kann man nicht hineinschauen in das geschichtliche Werden.
Dieses wird nicht im gewöhnlichen Bewußtsein erlebt wie
die Natur, sondern nur in dem Bewußtseinsgrad, der auch
dem Traum eigen ist. Es wird einmal für die Geschichtsbetraditung
eines der bedeutendsten Ergebnisse sein, wenn
man darauf kommen wird, daß man erst den Gegenstand
der Geschichtsbetrachtung finden muß, finden muß, daß
der Strom des geschichtlichen Werdens gar nicht so da ist
wie die Natur, daß also auch dasjenige, was so da ist wie
die Natur, nämlich die Tatsachen, die in den Archiven verzeichnet
sind, die in den Dokumenten stehen, die man gewöhnlich
schon als Geschichte bezeichnet, noch gar nicht
Geschichte sind, daß die Geschichte in Wirklichkeit erst
dahinter liegt, daß diese Tatsachen nur herausragen aus
dem geschichtlichen Werden, nicht selbst dieses geschichtliche
Werden sind."

Steiner, 1918

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