Sunday, July 28, 2013

Das Neues

"Alles dasjenige, was der Mensch gewöhnlich denkt, denkt er über
die Dinge, über das Gewordene. Er kann aber auch über solche Verhältnisse
denken, über etwas, das nicht durch die Wirkung von früher
herbeigeführt ist, sondern erst in der Gegenwart eintritt. Das geschieht
aber sehr selten, denn die Menschen hängen am alten, an dem, was um
sie aufgeschichtet ist. Verhältnisse, die als etwas ganz Neues auftreten,
werden sehr wenig den Inhalt menschlicher Gedanken bilden. Derjenige,
der an der Zukunft mitarbeiten will, muß aber solche Gedanken
haben, die neue Verhältnisse zwischen den Dingen ergeben. Nur
Gedanken über Verhältnisse zwischen den Dingen können etwas
Neues sein. Am besten sieht man das in der Kunst. Was der Künstler
macht, ist in Wirklichkeit gar nicht da. Die bloße Form, die der
Plastiker ausarbeitet, ist gar nicht wirklich da; sie ist kein Naturprodukt.
In der Natur gibt es nur die vom Leben durchpulste Form.
Die bloße Form würde den Naturgesetzen widersprechen. Der Künstler
baut aus Verhältnissen etwas Neues auf. Der Maler malt, was
durch die Verhältnisse eintritt: Licht und Schatten; er malt gar nicht,
was wirklich da ist. Er malt nicht den Baum, sondern eine Impression,
die hervorgerufen ist dadurch, daß er alle Beziehungen zum Baum
darstellt.
Auch im praktischen Handeln merkt man, daß der Mensch gewöhnlich
nichts Neues schafft. Die Mehrzahl der Menschen tut nur dasjenige,
was schon geschehen ist. Nur einige Menschen schaffen aus
moralischer Intuition heraus, indem sie neue Pflichten, neue Taten
in die Welt hineinbringen. Das Neue kommt in die Welt hinein durch
Verhältnisse. Daher hat man oftmals gesagt, daß das elementare moralische
Handeln überhaupt in Verhältnissen liegt. Solch moralisches
Handeln besteht zum Beispiel in Taten, die durch das Verhältnis des
Wohlwollens herbeigeführt werden. Bei den meisten Handlungen findet
man, daß sie auf Altem fußen; selbst bei Handlungen und Geschehnissen,
wo Neues eintritt, fußt man gewöhnlich noch auf Altem.
Bei genauer Untersuchung stellt sich das meistens heraus. Nur solche
Handlungen sind frei, bei denen der Mensch gar nicht auf Grund der
Vergangenheit arbeiten würde, sondern bei denen er nur dem gegenübersteht,
was durch die kombinierende und produktive Tätigkeit
seiner Vernunft an Handlungen in die Welt hineinkommen kann.
Solche Handlungen nennt man im Okkultismus: Aus dem Nichts
heraus schaffen. - Alle anderen Handlungen sind aus dem Karma
heraus geschaffen. Das sind zwei Gegensätze: Karma und das Gegenteil
von Karma, das Nichts - eine Tätigkeit, die nicht auf Karma
fußt."

Rudolf Steiner, 1905

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