Tuesday, June 05, 2012

Theosophie und Antroposophie

"Während das gewöhnliche menschliche Erkennen in der Welt
der Tatsachen herumgeht von Einzelheit zu Einzelheit, steigt die
Theosophie hinan auf einen hohen Gipfel; dadurch wächst der Um-
kreis, den sie überschaut — zugleich aber würde die Möglichkeit
schwinden, überhaupt noch etwas zu sehen, wenn die Theosophie
sich dabei nicht ganz besonderer Mittel bedienen würde. In meinem
Buche „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?" wird
dargestellt, wie der Mensch zu dem idealen Gipfel hinaufkommen
kann, ohne die Möglichkeit zu verlieren, etwas zu sehen.
Nun gibt es aber eine dritte Möglichkeit zwischen den beiden:
Man steigt nicht ganz bis zum Gipfel hinauf, sondern bleibt sozu-
sagen in der Mitte, in halber Höhe des Berges stehen. Ist man unten,
dann hat man keinen Überblick, sieht nur Einzelheiten und schaut
das Obere von unten her; ist man oben, dann hat man alles unter
sich und über sich nur den göttlichen Himmel. Ist man in der
Mitte, dann hat man etwas über sich und etwas unter sich und kann
diese beiden Ansichten miteinander vergleichen.
Jeder Vergleich hinkt selbstverständlich, aber es war zunächst nur
beabsichtigt, Ihnen vor Augen zu führen, wodurch Theosophie zu-
nächst sich von Anthroposophie unterscheidet. Anthroposophie ist
das Stehen in der Mitte, Theosophie das Stehen auf dem Gipfel; der
Standort ist ein anderer. — Soweit nützt uns der Vergleich; jetzt
aber reicht er nicht mehr aus, um das Folgende zu bezeichnen: Er-
gibt man sich der Theosophie, so ist es notwendig, daß man über
die menschliche Anschauung, über die Mitte hinauf vom Selbst zum
höheren Selbst steigt, und daß man mit den Organen dieses höheren
Selbst zu schauen vermag. Der Gipfel, den die Theosophie ersteigt,
liegt oberhalb des Menschen. Was dagegen gewöhnliches mensch-
liches Erkennen ist, liegt unterhalb des Menschen, und was gerade
in der Mitte steht, das ist der Mensch selbst — — — zwischen Natur
und Geisteswelt. Das Obere reicht in ihn hinein, er ist durchsetzt
vom Geist. Indem der Mensch die Welt rein menschlich betrachtet,
nimmt er zwar nicht seinen Ausgangspunkt vom Gipfel selbst, kann
aber den Gipfel, den Geist über sich sehen. Zugleich sieht er das,
was bloß Natur ist, unter sich, es ragt von unten in ihn hinein. Bei
der Theosophie besteht die Gefahr, daß, wenn sie nicht jene oben
erwähnten Mittel anwendet, die es ihr ermöglichen, mit dem höheren
Selbst zu sehen statt mit dem gewöhnlichen, das Menschliche über-
flogen wird, so daß der Mensch die Möglichkeit verliert, überhaupt
noch irgend etwas Zureichendes zu erkennen, zu seinen Füßen noch
die Wirklichkeit zu sehen. Diese Gefahr schwindet, sobald die Theo-
sophie sich jener Mittel bedient — dann aber können wir sagen:
Theosophie ist das, was erforscht wird, wenn der Gott im Menschen
spricht: „Laß den Gott in dir sprechen, und was er über die Welt
sagt, das ist Theosophie."
„Stelle dich in die Mitte zwischen Gott und Natur, laß den Men-
schen in dir sprechen — sowohl über das, was unter dir als über
das, was über dir ist — dann hast du Anthroposophie, das ist: die
Weisheit, die der Mensch spricht."
Und diese Weisheit wird uns ein wichtiger Stützpunkt sein und
ein Schlüssel zum Gesamtgebiet der Theosophie; hat man sich mit
der Theosophie eine Weile beschäftigt, so kann man kaum etwas
Besseres tun, als jenen festen Mittelpunkt der Anthroposophie wirk-
lich zu suchen."


Rudolf Steiner, 1909
GA 115

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